Zukunft gestalten: Chemie-Start-ups im Fokus

Deutsche Chemie-Start-ups leisten mit ihren Innovationen einen wichtigen Beitrag zur ökologischen Transformation der Wirtschaft. Doch es gibt auch Hürden – etwa den Mangel an ausreichender Finanzierung.

Interview mit Dr. Christian Rammer, Projektleiter im Forschungsbereich Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, geführt von Christina Lynn Dier

Seine Hauptforschungsgebiete umfassen Innovationsforschung, den Wissenstransfer zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sowie die Forschungs- und Innovationspolitik. Darüber hinaus ist er in zahlreichen nationalen und internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungs- und Beratungsprojekten aktiv.

Herr Dr. Rammer , wie steht es aktuell um die Innovationsleistung der Chemie- und Pharmabranche in Deutschland?

Die Unternehmen investieren nach wie vor auf hohem Niveau in Forschung und Entwicklung (F&E) – und lassen sich erfreulicherweise nicht so schnell aus der Spur bringen, wenn die wirtschaftliche Lage mal schwieriger wird. Das liegt vor allem daran, dass die deutsche Chemie- und Pharmabranche von sehr großen Unternehmen geprägt ist, die langfristige Forschungs- und Innovationsprogramme verfolgen. Und anders als etwa in der IT-Branche sind die Entwicklungszyklen in Chemie und Pharma generell länger. Man braucht also einen langen Atem.

Entwicklung der internen und externen FuE-Ausgaben in Deutschland 2010-2020
Quelle: Wissenschaftsstatistik Stifterverband – Berechnungen des CWS

Wie sind deutsche Unternehmen mit ihren F&E-Ausgaben im internationalen Vergleich aufgestellt?

Interessant ist, dass es in der Chemie einen Wechsel an der Spitze gegeben hat. Lange Zeit waren die US-amerikanischen Unternehmen mit ihren F&E-Aktivitäten führend. Doch seit etwa fünf Jahren haben sie ihre Spitzenposition eingebüßt und sind hinter Deutschland und Japan auf den dritten Platz zurückgefallen. Anders im Pharmabereich: Hier geben die amerikanischen Unternehmen weiter das Tempo vor und haben ihre Forschungsausgaben innerhalb von zehn Jahren fast verdreifacht.

Werfen wir einen speziellen Blick auf die Chemie-Start-ups: Zum Zeitpunkt Ihrer letzten Studie Anfang 2022 gab es rund 350 Chemie-Start-ups in Deutschland. Wie hat sich die Situation seither entwickelt?

Inzwischen werden es schon über 400 Chemie-Start-ups sein – wir sehen typischerweise einen Zuwachs von 25 bis 30 Neugründungen pro Jahr.

Anders als in anderen Branchen bleiben diese Unternehmen auch sehr lange am Markt. Denn wer ein Start-up in der Chemie- oder Pharmabranche gründet, der hat sich das vorher gut überlegt und oft viel Zeit und Geld investiert. Und in der Tat gelingt es den meisten Unternehmen, eine Nische zu finden und sich am Markt zu positionieren.

Das heißt: Jedes neu gegründete Unternehmen ist gleichzeitig auch eines mehr, das im Bestand ist. Bis ein Unternehmen nicht mehr als Start-up, sondern als Mittelständler mit etabliertem Geschäftsmodell gilt, vergehen in der Chemie- und Pharmabranche aufgrund der langen Forschungs- und Entwicklungszyklen gut und gerne 10 bis 15 Jahre. Auch das ist ein entscheidender Unterschied zu Start-ups aus anderen Branchen, die bereits nach drei bis fünf Jahren ein funktionierendes Geschäftsmodell vorweisen sollten, um nicht als gescheitert zu gelten.

Phase der Unternehmensentwicklung von Chemie-Startups in Deutschland 2022
Quelle: Chemie-Startups-Befragung 2022 – Berechnungen des ZEW

Worin unterscheiden sich Chemie-Start-ups noch von anderen jungen Unternehmen?

Da die Investitionszyklen sehr lang sind, ist es für Chemie-Start-ups schwierig, an Wagniskapital zu kommen. Denn Wagniskapitalgeber wollen möglichst rasch Rückflüsse aus einer Beteiligung generieren. In Bereichen wie Künstliche Intelligenz oder Industrie 4.0 geht das meist schneller. In der Pharmaindustrie war lange Zeit die rote Biotechnologie, die sich mit der Erforschung und Entwicklung medizinisch relevanter Produkte beschäftigt, ein wichtiger Anziehungspunkt für Wagniskapital. Denn hier besteht die Chance, bei erfolgreicher Entwicklung am Ende ein Blockbuster-Medikament mit Milliardenumsätzen zu haben. Diese Aussicht ist attraktiv genug, um als Wagniskapitalgeber in viele solcher Start-ups zu investieren – und wenn es am Ende ein Unternehmen schafft, hat sich die Investition schon gelohnt. Inzwischen ist aber auch die rote Biotechnologie stark von großen Unternehmen besetzt – Start-ups haben es daher schwerer, hier den Markteintritt zu schaffen. Das wiederum erschwert es, einen attraktiven Exit-Kanal für Investoren zu bieten. Und auch die großen Konzerne selbst – quasi die typischen Käufer solcher Chemie- und Pharma-Start-ups – sind eher zurückhaltend. Daher sind viele junge Unternehmen auf öffentliche Fördermittel angewiesen.

Gegenstand der öffentlichen Förderung von Chemie-Startups in Deutschland (Mehrfachnennung möglich)
Quelle: Chemie-Startups-Befragung 2022 – Berechnungen des ZEW

Wie könnten also effektive Lösungsansätze zum Thema Finanzierung aussehen?

Ein Schritt in die richtige Richtung ist sicherlich die Start-up-Strategie der Bundesregierung, die 2022 beschlossen und im vergangenen Jahr umgesetzt wurde. Ziel ist es, die Instrumente der Start-up-Finanzierung weiterzuentwickeln, insbesondere mit Blick auf die Wachstumsfinanzierung. Unter dem Dach des Zukunftsfonds gibt es dazu eine Reihe von Maßnahmen, darunter auch Fonds, bei denen der Bund und private Kapitalgeber gemeinsam in vielversprechende Start-ups investieren. Und natürlich wäre es wünschenswert, wenn auch die großen Chemieunternehmen künftig noch stärker als bisher Partnerschaften mit Start-ups forcieren und sich beispielsweise über ihre eigenen Venture-Capital-Gesellschaften finanziell einbringen. Dank günstiger Rahmenbedingungen könnten so innovative Produkte schneller in eine sichere Produktion im Industriemaßstab überführt werden – ohne dass Start-ups immer alles selbst neu entwickeln müssen.

Warum sind die großen Player Ihrer Meinung nach noch zurückhaltend, wenn es um Partnerschaften mit Start-ups geht?

Zum einen ist es auch für große Chemie- und Pharmaunternehmen ein risikoreiches Geschäft, zum anderen sind sie aufgrund ihrer Größe gut aufgestellt, um Prozesse und Projekte intern selbst voranzutreiben. Ein Start-up passt mit seiner oft hemdsärmeligen Herangehensweise nicht immer in die Unternehmenskultur von Konzernen, die allein schon aufgrund ihrer Größe auf hundertprozentige Sicherheit und Dokumentierbarkeit angewiesen sind. Diese beiden Kulturen unter einen Hut zu bringen ist nicht einfach.

Ich sehe aber, dass die Großen der Branche schon viel tun – etwa in Form von eigenen Gründerzentren oder Beauftragten, die sich mit der Gründerszene vernetzen. Und doch bleibt es immer wieder aufs Neue eine Herausforderung, jedes einzelne Start-up, jedes einzelne Projekt in bestehende Unternehmensstrukturen einzubinden.

Welche Produkte und Dienstleistungen bieten Chemie-Start-ups ihren Kunden typischerweise an? Gibt es hier gewisse Trends?

Wir beobachten, dass die jungen Unternehmen ein breites Spektrum an Produkten und Dienstleistungen abdecken. Ein Schwerpunkt ist sicherlich die klassische Materialwissenschaft und Werkstofftechnik. Chemie-Start-ups bieten aber auch analytische Dienstleistungen für Unternehmen aus anderen Branchen an, die beispielsweise an der Molekülentwicklung interessiert sind. Ein weiteres Geschäftsfeld ist die chemische Auftragsforschung, bei der junge Unternehmen helfen, ein Produkt bis zur Marktreife weiterzuentwickeln. Und ein großer Trend ist sicherlich alles rund um IT-Dienstleistungen – hier gibt es immer mehr Start-ups, die erproben, wie die neuen Möglichkeiten rund um Künstliche Intelligenz und Big Data bestimmte Entwicklungsprozesse verschlanken und arbeitsintensive Schritte ersetzen können, weil nicht alles im Labor getestet werden muss.

Produkte von Chemie-Startups in Deutschland 2022 (Mehrfachzuordnungen möglich)
Quelle: Forum Startup Chemie und ZEW (MUP) – Berechnungen des ZEW

Wie wirkt sich das wachsende Bewusstsein für Umwelt und Nachhaltigkeit auf junge Chemieunternehmen aus?

Das ist ganz klar ein großes, verbindendes Querschnittsthema. Schon bei unserer letzten Befragung vor gut zwei Jahren wurde deutlich, dass sich mehr als 80 Prozent aller Chemie-Start-ups mit Nachhaltigkeit, Klimaschutz und der Energiewende befassen und ökologische Fragen somit zentral für ihr Geschäftsmodell sind – dieser Anteil ist seitdem sicher nicht gesunken, sondern eher noch gestiegen. Der Bereich bietet großes Wachstumspotenzial und somit Einstiegschancen für junge Unternehmen.

Schließlich gilt die Chemie per se als Schlüsselindustrie für die Dekarbonisierung – viele Green-Deal-Lösungen wie Batterien, Windturbinen oder Solarzellen brauchen Stoffe aus der chemischen Industrie.

Werfen Sie einen Blick in die Zukunft: Wie schätzen Sie das weitere Wachstum im Bereich der Chemie-Start-ups ein?

Ich fände es positiv, wenn das Niveau von etwa 25 bis 30 Gründungen pro Jahr auch in Zukunft gehalten werden könnte. Ich rechne aber eher mit einem leichten Rückgang. Dafür gibt es verschiedene Gründe, zum Beispiel den demografischen Effekt. Die Jahrgänge, die typischerweise gründen, werden in Zukunft schwächer besetzt sein. Das andere entscheidende Thema ist der Fachkräftemangel, der sich auch in der Großindustrie bemerkbar macht. In den Forschungslabors der Großunternehmen werden durch altersbedingtes Ausscheiden wieder mehr Stellen frei. Um talentierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu gewinnen, muss die Industrie attraktive Bedingungen bieten. Das schließt mehr Freiheit für eigene Forschungsprojekte und die Möglichkeit, die Ergebnisse auch wissenschaftlich zu publizieren, ein. Dies bedeutet, dass viele talentierte Forscherinnen und Forscher, die ansonsten ein Chemie-Start-up gegründet hätten, den Karriereweg in der Industrie einschlagen – und nicht das Risiko eines Start-ups eingehen.

Vielen Dank für das Interview!

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