Was Chemiekonzerne von Start-ups lernen können
Mit Wagniskapitalfonds, Innovationslaboren und Acceleratoren suchen Chemie- und Pharmaunternehmen die Nähe zur Gründerszene. Ausgeschöpft ist das Kooperationspotenzial aber noch lange nicht.
Von Steffen Ermisch
Das Start-up Strohm will einen neuen Standard beim Pipelinebau setzen: Anders als Stahlröhren sind die Mehrschichtrohre des jungen niederländischen Unternehmens flexibel und wartungsfrei, zudem ist die Klimabilanz besser. In der konventionellen Ölförderung werden die neuen Pipelines schon genutzt, künftig sollen sie auch Wasserstoff transportieren – Absichtserklärungen dazu gibt es bereits. Aufmerksam verfolgt werden die Entwicklungen bei Evonik: Das Essener Chemieunternehmen liefert nicht nur Hochleistungskunststoffe für die Herstellung der Rohre. Es ist auch finanziell an Strohm beteiligt.
Die doppelte Geschäftsbeziehung zu Start-ups ist für den Konzern nicht ungewöhnlich. Wir arbeiten mit fast allen unseren Portfoliounternehmen eng zusammen.
Bernhard Mohr, Managing Director des Wagniskapitalarms Evonik Venture Capital
Zudem lerne man viel von der Innovationskraft und Agilität der Start-ups, die wiederum von den Ressourcen und dem Netzwerk des Konzerns profitierten.
Führend im verarbeitenden Gewerbe
Mit seinem 2012 gegründeten Wagniskapitalarm, der inzwischen auf mehr als 50 Investitionen in Direkt- und Fondsanlagen kommt, hat Evonik sich früh einen Namen in der Start-up-Szene gemacht. Doch auch andere Branchenriesen suchen die Nähe zu innovativen jungen Unternehmen – etwa um neue Produkte oder Dienste zu entwickeln oder eigene Prozesse zu verbessern. Innerhalb des verarbeitenden Gewerbes sind Unternehmen aus dem Bereich Chemie und Pharma sogar führend bei Kooperationen mit digitalen Start-ups, ergab im Herbst 2022 eine Auswertung des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.
Finanzielle Beteiligungen, die unter anderem auch von BASF, Bayer, Merck und Covestro mit eigenen Wagniskapitalvehikeln vorangetrieben werden, zielen dabei in der Regel auf reifere Start-ups. Doch viele Konzerne suchen mit Innovationslaboren und sogenannten Acceleratoren auch den Schulterschluss mit Gründern, deren Geschäftsmodell sich am Markt noch nicht bewiesen hat. Noch früher setzen Inkubatoren an, die Gründungsvorhaben unterstützen. Dazu zählen etwa der Chemovator von BASF, den der Ludwigshafener Konzern kürzlich für Externe geöffnet hat, und das von Chemieunternehmen in Nordrhein-Westfalen initiierte Programm „Chemstars.nrw“ .
Zusammen mit seinem Team hat er unter anderem auf Sensordaten spezialisierte Start-ups mit Fachabteilungen des Industriepark-Betreibers zusammengebracht: Von einem jungen Unternehmen stammen Deckelkappen für Flüssigkeitscontainer, die den Füllstand messen. Ein anderes hat bei der Einrichtung der Funktechnik zur Übertragung der Sensordaten unterstützt.
Speeddating soll Brücken schlagen
Doch auch wenn aus solchen Kooperationen immer wieder vielversprechende Innovationsprojekte entwachsen: Bis Schnellboot und Tanker zusammenfinden, fahren sie mitunter erst einmal aneinander vorbei.
Es fängt schon damit an, dass für Gründer schwer zu durchschauen ist, wie sie überhaupt mit einer Firma in Kontakt treten können. In großen Konzernen gibt es oft eine Vielzahl von Anlaufstellen, in kleineren Firmen oft gar keine.
Frank Funke, Geschäftsführer des 5-HT Digital Hubs Chemistry & Health in Ludwigshafen
5-HT – die Abkürzung steht für 5-Hydroxytryptamin, die biochemische Bezeichnung für den Botenstoff Serotonin – versteht sich als unternehmensübergreifender Vermittler. Firmen können den Digital Hub damit beauftragen, weltweit nach passenden Start-ups für eine individuelle Problemstellung zu suchen. Bei Bedarf begleitet das Team die Projekte. Brücken schlagen will der Hub zudem mit seinem Format „5-HT X-Linker“. Mehrmals im Jahr präsentieren Start-ups ihre Lösungen zu einem bestimmten Thema. Im Anschluss an die Pitches gibt es ein Speeddating zwischen Gründern und den Vertretern etablierter Firmen, um weitere Kooperationsmöglichkeiten auszuloten.
Entwachsen ist aus dem Format unter anderem eine Kooperation von BASF mit dem Blockchain-Start-up Arxum aus Kaiserslautern. Gemeinsam haben sie ein System entwickelt, um Daten zu Forschungsexperimenten manipulationssicher zu speichern. Insgesamt gab es seit der Gründung des Hubs 2018 laut Funke rund 300 Matches – also erfolgreiche Vorgespräche zwischen Start-ups und etablierten Unternehmen. In rund 15 Prozent der Fälle, so seine Schätzung, entstehe daraus dann eine Geschäftsbeziehung. Die Dunkelziffer sei hier recht hoch, weil „wir oft nichts von den durch uns initiierten Projekten erfahren oder diese sich erst nach längerer Zeit entwickeln“, führt Funke aus.
Das Potenzial wäre indes sehr viel größer, ist der Experte überzeugt. Oft scheitere eine Kooperation aus Mentalitätsgründen: „Aufseiten der etablierten Unternehmen ist die Kultur, sich mit externer Innovation zu befassen, noch nicht ausreichend verankert“, erläutert Funke. Doch auch Gründerinnen und Gründer könnten sich ernsthafter um Kooperationen bemühen: „Leider stehen sich manche Start-ups selbst im Weg, weil sie sich nicht gründlich genug auf die Gespräche vorbereiten.“
KI und Nachhaltigkeit als Treiber
Dass manch vielversprechende Kooperationsmöglichkeiten doch nicht zustande kommen, hat auch Philipp Seubert schon erlebt: „Die Arbeitsweise ist mitunter zu unterschiedlich.“ Auf der einen Seite stünden Start-ups, die kurze Entwicklungszyklen gewohnt seien und gern mit Minimalversionen eines Produkts lospreschten. Auf der anderen Seite stünden langwierige Freigabeprozesse und hohe Compliance-Anforderungen im Konzern. Sowohl die Pharma- als auch die Chemiebranche seien zudem stark reguliert – neue Produkte müssten oft aufwendige Zertifizierungsverfahren durchlaufen.
Insgesamt aber, so die Einschätzung Seuberts, öffneten sich die Branchenunternehmen immer mehr für die externen Innovatoren. Auch 5-HT-Geschäftsführer Funke sieht Fortschritte.
Auch bei Evonik treibt die Nachhaltigkeitsstrategie die Investitionen in Start-ups. Vor gut einem Jahr hat der Essener Konzern einen separaten „Sustainability Tech Fund“ mit einem Volumen von 150 Millionen Euro aufgesetzt. Investiert wird das Geld aus diesem Topf in Technologien und Geschäftsmodelle zur Reduktion von CO2-Emissionen. „Ich bin überzeugt, dass wir die ambitionierten Klimaziele nur erreichen können, wenn etablierte Spieler wie wir gemeinsam mit innovativen Start-ups neue Lösungen entwickeln“, sagt Mohr.