Nachhaltige Chemie eröffnet neue Geschäftsmodelle

Wenn Chemie im Kontext von Nachhaltigkeit verstanden und sinnvoll eingesetzt wird, ergeben sich für die Unternehmen der Branche ganz neue, zukunftsweisende Geschäftsmodelle, ist Klaus Kümmerer überzeugt. Ein Interview mit dem Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen am Institut für Nachhaltige Chemie der Leuphana Universität Lüneburg, der für sein Engagement für eine nachhaltige Chemie im Januar 2024 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde.

Interview mit Prof. Dr. Klaus Kümmerer, Leuphana Universität Lüneburg, geführt von Christina Lynn Dier

Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen am Institut für Nachhaltige Chemie der Leuphana Universität Lüneburg

Herr Prof. Kümmerer, Nachhaltigkeit und Chemie – das sind zwei Begriffe, die für viele Menschen auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Wie passen sie zusammen?

Zunächst einmal der Hinweis: Überall, wo wir gerade stehen, sitzen, arbeiten, unsere Freizeit verbringen, sind Produkte der chemischen Industrie im Einsatz. Die Palette reicht von Chemiefasern und Kunststoffen über Klebstoffe und Farben bis hin zu Kosmetika und Medikamenten. Viele Produkte der Chemie helfen uns dabei, gesund zu bleiben. Das ist bereits ein erster Aspekt der Nachhaltigkeit: Wenn wir gesund sind und bleiben, verbrauchen wir keine wertvollen Ressourcen für möglicherweise langwierige Behandlungen. Ein zweiter Aspekt ist, dass die Chemie viel dazu beitragen kann, Energie einzusparen. Kunststoffe reduzieren beispielsweise im Automobilbau den Spritverbrauch der Fahrzeuge. Und in den für die Energiewende essenziellen Windkraftanlagen kommen faserverstärkte Kunststoffe zum Einsatz, die besonders leicht und gleichzeitig stabil sind – ebenso wie verschiedene Klebstoffe und Lacke. Sie sehen also: Nachhaltigkeit und Chemie sind kein Widerspruch, auch wenn es in der Branche noch viel zu tun gibt. Denn die Chemie hilft nicht nur dabei, Ressourcen zu sparen, sondern ge- und verbraucht auch viele – etwa Öl, Metalle, Wasser und Energie.

Die grüne Chemie beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit der Frage, wie Stoffe mit weniger Energieaufwand synthetisiert werden können, wie weniger Abfälle entstehen oder wie nachwachsende Rohstoffe genutzt werden können. Sie verfolgen aber das Konzept der nachhaltigen Chemie. Was ist der Unterschied?

Nachhaltige Chemie betrachtet nicht nur einzelne Moleküle, Materialien oder Produkte, sondern nimmt das System als Ganzes in den Blick. Es geht darum, wie die Chemie zur Nachhaltigkeit auf nachhaltige Art und Weise beiträgt. Dazu betrachten wir die gesamten Stoff-, Material- und Produktströme, aber auch soziale und ethische Aspekte – etwa, wo die eingesetzten Ressourcen eigentlich herkommen. Was bedeutet beispielsweise die Verwendung nachwachsender Rohstoffe oder der Export von Metallen für alle Beteiligten? Metalle können wir nicht synthetisieren, wie gehen wir am besten mit ihnen um? Dann wird schnell klar: Nicht alles, was eines oder gar alle der zwölf Prinzipien der grünen Chemie erfüllt, ist automatisch nachhaltig. Nachhaltigkeit ist übergeordnet; Grün kann ein Baustein sein, dem näherzukommen.

Und im Gegensatz zur grünen Chemie steht bei der nachhaltigen Chemie als Allererstes immer die Frage: Welche Leistung, welche Funktion will ich eigentlich haben? Benötigt es dazu chemische Produkte oder gibt es stoffliche Alternativen?

Und was heißt das konkret in der Praxis?

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag: Ziel ist es, Algenbildung an einer Hausfassade zu verhindern. Der klassische Ansatz sieht nun vor, der Farbe Biozide beizumischen. Diese Substanzen können aber von der Fassade ins Grundwasser gelangen. Wäre es an dieser Stelle nicht sinnvoller zu überlegen, was man baulich ändern könnte, damit es weniger gegen die Fassade regnet oder sie schneller abtrocknet? Oder man wählt von vornherein statt einer blütenweißen Farbe mit Bioziden eine gräuliche oder grüne biozidfreie Fassadenfarbe.

Für die chemische Industrie bedeutet dieser neue Denkansatz auch ein anderes unternehmerisches Selbstverständnis …

Absolut richtig. Das Denken in systemischen Zusammenhängen und das Selbstverständnis als Dienstleister oder auch als Unternehmer mit Nachhaltigkeitsfokus eröffnen neue Geschäftsmodelle.

Es geht nicht darum, möglichst viel von einem Produkt zu verkaufen, sondern zu fragen, welche Dienstleistung benötigt wird – und dann zu schauen, welche sinnvolle Rolle die Chemie dabei spielen kann. Das Vermitteln von Wissen wird so zu einem entscheidenden Baustein, mit dem aber auch Geld verdient werden kann.

Ein von uns begleitetes Pilotprojekt mit einem großen Desinfektionsmittelhersteller verdeutlicht das: Wir haben uns die Frage gestellt, was es braucht, um in Krankenhäusern den gewünschten Hygienestandard zu halten und die Zahl der Krankenhausinfektionen so gering wie möglich zu halten. Braucht man dafür wirklich noch mehr Desinfektionsmittel oder mehr und bessere Hygieneschulungen sowie baulich konstruktive Maßnahmen? In einem Projekt konnten dadurch insgesamt 60 Prozent der bis dato benötigten Menge an Desinfektionsmittel eingespart werden – bei gleichem Hygienestandard. Hochgerechnet auf ganz Deutschland, so der Desinfektionsmittelhersteller, könne man so den Bau einer ganzen Abfüllanlage einsparen. Und was hat das Unternehmen davon, dass es insgesamt weniger Desinfektionsmittel verkauft? Es verkauft nicht primär seine Produkte, sondern Dienstleistungen in Form von Wissenstransfer, Schulungen, Beratung. Gleichzeitig wird es dadurch von Rohstoffen unabhängiger.

Sehen Sie im Bereich dieser neuen, innovativen Geschäftsmodelle auch Chancen für junge Unternehmen, zum Beispiel Chemie-Start-ups?

Ja, definitiv. Ich bin davon überzeugt, dass es vor allem Start-ups sein werden, die das neue Denken einer nachhaltigen Chemie in die großen Unternehmen und letztlich in die Gesellschaft tragen. Neben meiner Forschungsarbeit engagiere ich mich auch in der Lehre an der Leuphana Universität Lüneburg – ich sehe daher, mit welch großem Engagement zum Beispiel junge Professionals berufsbegleitende Online-Studiengänge wie etwa den Master of Sustainable Chemistry angehen und dabei begierig sind zu lernen, Chemie im Kontext von Nachhaltigkeit zu verstehen und anzuwenden.

Sie wollen etwas verändern! Ich blicke daher positiv nicht nur in die Zukunft der nachhaltigen Chemie, sondern des gesamten chemischen Sektors, und glaube, dass auch immer mehr Unternehmen die Chance für zukunftsfähige und nachhaltige Geschäftsmodelle ergreifen werden.

Was möchten Sie mit Ihrer Forschung in Zukunft noch bewegen?

Bei Produkten, die sich nicht für die Kreislaufwirtschaft eignen und unvermeidlich in die Umwelt gelangen, müssen wir dafür sorgen, dass sie dort schnell und vollständig abbaubar sind. Ich beschäftige mich daher intensiv mit dem Konzept „Benign by Design“, bei dem es darum geht, Umweltbelastungen durch gezieltes Design von Molekülen zu reduzieren. Ziel ist es, schon beim Design chemischer Stoffe ihren Verbleib in der Umwelt nach der Nutzung im Blick zu haben. Dass das „Benign by Design“-Konzept erfolgreich funktioniert, konnte ich bereits am Beispiel von biologisch abbaubaren Antibiotika und für die Umwelt unschädlicheren ionischen Flüssigkeiten zeigen. Hier möchte ich noch viele weitere praktische Anwendungen erforschen, um zu verdeutlichen, dass dieser Ansatz nicht nur funktioniert, sondern Teil einer neuen Normalität ist.

Es ist aber auch wichtig, das Konzept für komplexere Produkte und Materialien fruchtbar zu machen. Stoffe, Materialien und Produkte müssen so designt werden, dass sie möglichst lange im Kreislauf bleiben und gleichzeitig später möglichst einfach recycelt werden können. Wie komplex können oder dürfen Produkte sein? Lohnt es sich für fünf Prozent mehr an Performance überproportional viel an Ressourcen zu verbrauchen, Abfälle zu generieren, die Umwelt noch mehr zu verschmutzen und Recycling zu erschweren?

Wir müssen alles daran setzen, in Zukunft mit weniger materiellem Aufwand und Komplexität denselben Service zu ermöglichen. Wer, wenn nicht Chemikerinnen und Chemiker können dies leisten, wenn es um die materiellere Welt geht.

Und wir müssen realisieren: Wir tragen die Verantwortung für die Produkte – und zwar von Anfang bis Ende! Die Frage nach Funktion und Service in einem Systemverständnis ist dafür von Beginn an unabdingbar.
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