„KI erreicht eine Dimension, mit der sie die ganze Welt umkrempeln kann“
Sowohl die Chemie- als auch die Pharmabranche stehen durch die enormen Fortschritte bei Künstlicher Intelligenz vor einer historischen Revolution. Nahezu alle Phasen der Entwicklung von Wirkstoffen und anderen Verbindungen können nun schneller und vor allem effizienter gestaltet werden. Doch ist Deutschland darauf vorbereitet?
Interview mit KI-Experte Thorsten Gressling, AI Transformation Lead der Bayer AG, geführt von Thomas Kölsch
Thorsten Gressling
AI Transformation Lead der Bayer AG
Der promovierte Chemiker und Informatiker Thorsten Gressling beschäftigt sich schon lange mit Künstlicher Intelligenz – Mitte der 1990er-Jahre implementierte er ein erstes selbstlernendes System an der Universität Kiel. Er war viele Jahre als Berater in der Finanzbranche tätig und wechselte 2004 zu Bayer. Der enorme Fortschritt in der Entwicklung von Deep Learning bewog ihn 2016 zur Gründung der A.I. Research and Consulting GmbH, die Seminare, Projektimplementierungen sowie Schulungen und Trainings zum Thema KI durchführt.
Herr Gressling, wie bewerten Sie den Wandel innerhalb der digitalen Sphäre, der durch neue KI-Modelle initiiert wurde und der sich vor allem in den vergangenen fünf Jahren vollzogen hat?
Eindeutig disruptiv und von der Tragweite noch weitaus größer als alle KI-Revolutionen, die es bislang gab. Tatsächlich ist das, was im Moment stattfindet, auf die vierte Generation von KI zurückzuführen. Schon Mitte der 1950er-Jahre gab es einen ersten Hype, damals entstand während einer Fachkonferenz das erste KI-Programm der Welt. In den 1970er-Jahren wurden dann stochastisch basierte Expertensysteme entwickelt, gefolgt von neuronalen Netzen in den 1990ern. Aber erst jetzt, mit den großen Sprachmodellen, erreicht die KI eine Dimension, mit der sie tatsächlich in der Lage ist, nicht nur die Chemie umzukrempeln, sondern die ganze Welt. Wie gesagt, das ist höchst disruptiv.
Wie ist dieser Begriff zu verstehen?
Für mich ist diese disruptive Veränderung eindeutig positiv besetzt. Es gibt aber auch gerade in Deutschland viele Menschen, die das Ganze kritisch sehen. Laut einer aktuellen Umfrage glauben über 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nicht, dass KI ihr Leben verbessern kann. In anderen Regionen der Welt sind die Menschen schon weiter, etwa in China oder in den USA.
Europa hat in Sachen Akzeptanz von KI noch eine Menge nachzuholen. Vor allem in Deutschland müssen wir aus meiner Sicht Gas geben und in einen Notfallplan wechseln, um beim Thema KI wieder eine Rolle zu spielen.
Stellen Sie diese Mentalitätsunterschiede auch in Ihrem Arbeitsalltag fest?
Ja, ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich unterrichte an der Humboldt-Universität in Berlin „AI in Chemistry“ und habe dort Studierende aus vielen Ländern in meinen Kursen. Dabei stelle ich immer wieder fest, wie unglaublich gut die Studierenden aus China mit diesem Thema umgehen, und zwar nicht nur repetitiv, sondern auch ausgesprochen kreativ. Dazu besitzen sie eine unglaublich gute Vorbildung. Als Wissenschaftler macht mir das natürlich Freude, aber als Vertreter des europäischen Kulturkreises merke ich, dass wir in Sachen KI unglaublich nachlegen müssen – gesellschaftlich und auch hinsichtlich der Leistung unserer Systeme.
Die globalen Player sind derzeit unbestreitbar die USA und China. Was bedeutet das wiederum für Europa und insbesondere für die Chemie- und Pharmabranche?
Nur weil KI gerade den intellektuellen Raum revolutioniert, heißt das nicht zwangsläufig, dass ein ganzer Industriezweig von heute auf morgen irrelevant wird.
Welche Qualifikationen und Kompetenzen erwarten Sie bereits heute von angehenden Chemikern und Pharmazeuten, und was kann man da auch in Zukunft erwarten? Denn bereits jetzt zeigt sich ja, dass sich die Berufsprofile deutlich verändern, insbesondere zugunsten von IT-Kenntnissen.
Damit haben Sie es schon beschrieben. Was wir noch tun können, ist, das Ganze auch in den Lehrinhalten an Universität und Schule viel besser zu vermitteln. Meine Vorlesung „AI in Chemistry“ ist, soweit ich das beurteilen kann, die einzige dieser Art im deutschsprachigen Raum und mit den 40 Studierenden, die ich dieses Semester im Kurs hatte, gelten wir offensichtlich viel zu sehr als Nischenspezialisierung.
Muss aber nicht auch die chemische und pharmazeutische Industrie entsprechende Strukturen schaffen, um diese Fortbildung zu ermöglichen?
Ja, auf jeden Fall. Auch das sollte ein Teil dieses von mir erwähnten Notfallplans sein, weil wir in kürzester Zeit sehr viele Menschen dazu bringen müssen, KI sowohl für ihre Arbeit als auch für sich gewinnbringend zu nutzen.
Welche Aspekte hemmen eigentlich derzeit die Nutzung des gesamten Potenzials von KI? Ich denke jetzt an Zulassungsprozesse, Patentfragen und Ähnliches ...
Eigentlich sollte dies ja das EU-Gesetz zur Künstlichen Intelligenz regeln, doch das sehe ich als schwierig an. Dabei handelt es sich um 457 Seiten Verordnung, die dafür sorgen, dass die kreativen Köpfe lieber ins Ausland gehen, als sich mit der Bürokratie in Brüssel herumzuschlagen. Und das ist nur ein Aspekt, bei dem wir neue Leitlinien benötigen. Auch das Thema Datenschutz muss meiner Meinung nach neu gedacht werden. Wir haben zu Recht ein kritisches Verhältnis zur massenhaften Verarbeitung von biometrischen Daten, aber zugleich hat sich die technische Welt sehr verändert – und dem sind wir aus meiner ganz persönlichen Sicht mit der Entwicklung eines gesetzlichen Rahmens nicht wirklich gefolgt.
Wo sehen Sie die europäische Chemie- und Pharmaindustrie in fünf bis zehn Jahren? Könnte es uns dann gelingen, zu den anderen Akteuren aufzuholen?
Im Bereich der Produktion und der Realisierung von Ideen aus dem intellektuellen Raum könnten wir durchaus weiterhin eine große Rolle spielen. Ob wir aber in zehn Jahren den Raum der Forschung und den der Eigentümerschaft über Know-how noch besetzen, ist schwer zu sagen. Ich hoffe schon.
Vielen Dank für das Interview!