Anlauf zum Quantensprung
Nach jahrelanger Forschung stehen Quantencomputer an der Schwelle zur Marktreife. Pharma- und Chemieunternehmen haben besonders hohe Erwartungen an die Technologie.
Von Steffen Ermisch
Das Modell war stark vereinfacht – die Aufgabenstellung aber realitätsnah: IBM-Forscher ließen einen neuen Computer die Verteilung von Teilchen und Feldern in einem magnetisierten Material berechnen. Der Rechner erledigte die komplexe Aufgabe schnell und fehlerfrei, berichteten die Forscher im vergangenen Jahr im renommierten Magazin „Nature“. Die Besonderheit: Statt mit Bits und Bytes rechnete ihre Maschine mit sogenannten Quantenbits (kurz: Qubits) – der Speicher- und Informationseinheit von Quantencomputern.
Die Idee von Superrechnern, die sich die Eigenarten der Quantenmechanik zunutze machen, beschäftigt Physiker schon seit den 1980er Jahren. In den vergangenen Jahren hat die Forschung stark an Dynamik gewonnen – und Fortschrittsmeldungen wie die des IBM-Teams nähren die Hoffnung, dass die Maschinen schon bald sinnvolle Aufgaben abseits von Laborsituationen lösen können.
Milliardenschwere Vorteile erwartet
Von hohen Erwartungen zeugen auch die privatwirtschaftlichen Investitionen, die von Jahr zu Jahr zunehmen. Nach Erhebungen der Boston Consulting Group (BCG) flossen im Jahr 2022 bereits 1,6 Milliarden US-Dollar in entsprechende Start-ups. Diese liefern sich einen Wettlauf mit Technologieriesen wie IBM, Google und Microsoft, die ihrerseits mit Hochdruck an Quantencomputern arbeiten. BCG geht davon aus, dass erste kommerzielle Einsätze schon im kommenden Jahr möglich sein könnten – andere Marktbeobachter glauben, dass es erst gegen Ende des Jahrzehnts so weit ist.
Nach Einschätzung von Experten werden Quantencomputer besonders bei naturwissenschaftlichen Simulationen ihre Stärke ausspielen – entsprechend groß ist das Interesse von Pharma- und Chemieunternehmen. Das Potenzial ist riesig, rechnet BCG vor. Allein der Einsatz in der Arzneimittelforschung könne einen wirtschaftlichen Mehrwert von 40 Milliarden bis 80 Milliarden Dollar jährlich schaffen. In Deutschland lotet neben anderen der Darmstädter Konzern Merck aus, wie Quantencomputer die personalisierte Medizin voranbringen können.
Schneller zu neuen Materialien
Weit oben auf der Agenda steht das Thema auch beim Chemieriesen BASF. Der Konzern treibt die Forschung an Quantencomputern in einer Reihe öffentlich geförderter Projekte sowie in Industriepartnerschaften voran. Von einer „bahnbrechenden neuen Technologie“ spricht Dr. Horst Weiß, Leiter des Forschungsteams Next Generation Computing bei BASF.
Quantencomputer werden in der chemischen Industrie zum Beispiel den Entwicklungsprozess neuer Moleküle, Materialien oder Formulierungen disruptiv verändern und vor allem auch beschleunigen.
Dr. Horst Weiß, Leiter des Forschungsteams Next Generation Computing bei BASF
In der Materialforschung, so führt der Experte aus, könnten Quantencomputer zum Beispiel zuverlässigere Vorhersagen über Materialien liefern, die Übergangsmetalle oder seltene Erden enthalten. „Das sind quantenchemisch sehr anspruchsvolle Elemente, die unter anderem in Katalysatoren, Batterien, der Elektronik, Magneten oder der Photovoltaik vorkommen“, erklärt Weiß. Beim Screening käme auch der aktuelle Supercomputer des Konzerns an seine Grenzen. Anwendungen untersucht BASF nach eigenen Angaben aber auch abseits der Materialforschung und der Produktentwicklung: etwa bei der Produktionsplanung, der Logistik, der Finanzmathematik und bei Anwendungen Künstlicher Intelligenz.
Mehr als zwei Zustände
Ihren Leistungsvorsprung gegenüber klassischen Superrechnern erreichen Quantencomputer durch die besonderen physikalischen Regeln, die in der atomaren und subatomaren Welt gelten. Wesentlich dabei: Während die Schaltkreise klassischer Computer nur den Zustand „an“ oder „aus“ (0 oder 1) kennen, können Qubits auch beide Zustände zugleich oder Zustände dazwischen einnehmen. Mit jedem Qubit wächst deswegen exponentiell die Zahl der möglichen Kombinationen, die ein Quantencomputer darstellen kann.
Versuche, das Phänomen der „Superposition“ auf unsere Alltagswelt zu übertragen, muten schnell skurril an, wie „Schrödingers Katze“ zeigt: In dem berühmten Gedankenexperiment wird eine Katze in eine Kiste mit einer Vorrichtung gesetzt, die das Tier mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit tötet. Die Kiste wird geschlossen. Solange niemand die Kiste wieder öffnet, ist die Katze aus quantenmechanischer Sicht weder eindeutig tot noch lebendig – sondern beides zugleich.
Ähnlich kontraintuitiv ist die Verschränkung – ein zweites für die Leistungsfähigkeit von Quantencomputern wesentliches Phänomen. Demnach können selbst viele Lichtjahre voneinander entfernte Teilchen so miteinander verbunden sein, dass die Zustandsänderung des einen Teilchens unmittelbar zu einer Zustandsänderung des anderen Teilchens führt. Was Albert Einstein einst als „spukhafte Fernwirkung“ abgelehnt hat, sorgt im Quantencomputer vor allem für eine Beschleunigung paralleler Rechenoperationen.
Rechnen am Nullpunkt
Um Qubits zu erzeugen, gibt es verschiedene Methoden. Bekannte IT-Riesen wie Google und IBM nutzen winzige supraleitende Schaltkreise. Die Bauweise macht es erforderlich, dass die Chips auf extrem niedrige Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt (–273,15 Grad Celsius) gekühlt werden. An einer alternativen Technik, die eine nicht ganz so starke Kühlung erfordert, arbeitet zum Beispiel eleQtron aus Siegen: Das Start-up nutzt sogenannte Ionenfallen, in denen einzelne Atome in einem elektromagnetischen Feld gefangen werden. Wieder andere Unternehmen bilden Qubits aus Lichtteilchen.
Forscher arbeiten zudem daran, die Zahl der Recheneinheiten zu erhöhen. Aktuelle Quantencomputer-Chips erreichen mehr als 1.000 Qubits. Für manche Berechnungen, etwa in der Quantenchemie, wären nach Einschätzung mancher Wissenschaftler aber mehrere Millionen Qubits nötig.
Den Quantenvorteil, also die Lösung eines anwendungsrelevanten Problems mit einer Effizienz, die ein klassischer Rechner nie erzielen kann, werden wir erst in einigen Jahren erreichen.
Dr. Horst Weiß, Leiter des Forschungsteams Next Generation Computing bei BASF
Ein möglicher Zwischenschritt könnte das sogenannte hybride Quantencomputing sein: Dabei werden Qubits auf herkömmlichen Superrechnern simuliert. Firmen wie Terra Quantum versprechen, dass damit viele Berechnungen bereits optimiert werden können. Beim Essener Spezialchemiekonzern Evonik etwa hat das deutsch-schweizerische Start-up in einem Pilotprojekt Produktionsteile für Mischverfahren von Flüssigkeiten optimiert.