Blockchain: Revolution für die Chemiebranche?

Chemieunternehmen loten aus, welchen Nutzen die Blockchain-Technologie für sie hat. Pilotversuche offenbaren großes Potenzial. Doch der breitflächige Einsatz lässt noch auf sich warten – auch weil sich die auf Effizienz getrimmte Branche schwer damit tut, etablierte Prozesse über Bord zu werfen.

Von Steffen Ermisch

Dieses Additiv sorgt für eine höhere Reißfestigkeit, jenes für eine höhere Haltbarkeit: So gern Chemieunternehmen über die Wirkung ihrer Produkte sprechen, so schweigsam sind sie meist, wenn es um deren Zusammensetzung geht. Groß ist die Sorge, von Konkurrenten kopiert zu werden. Doch der Ruf nach Transparenz wird lauter – sie kommt vom Ende der Lieferkette: Konsumgüterhersteller wollen zunehmend wissen, was genau in ihren Produkten steckt. Etwa, um vollständige CO2-Bilanzen zu erstellen oder um das Recycling zu erleichtern.

Die unterschiedlichen Interessen zusammenbringen will Circularise. Das niederländische Start-up hat eine Plattform für „digitale Produktpässe “ entwickelt, die nach EU-Plänen bald zur Regel werden sollen. Cirularise verspricht, sie so umzusetzen, dass zwar alle relevanten Daten enthalten, gleichzeitig aber die Geschäftsgeheimnisse von Lieferanten geschützt sind. Neben anderen zählen der Sportwagenbauer Porsche und der Kofferhersteller Samsonite zu den Kunden. Involviert sind auch namhafte Chemieunternehmen – darunter Covestro, LyondellBasell, Borealis und DOMO Chemicals.

Der digitale Produktpass; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV)

Der Schlüssel für das Vertrauen in das 2016 gegründete Unternehmen: Statt in der Cloud eines Unternehmens werden die Daten auf neutralem Gebiet zusammengeführt – auf einer Blockchain. Bekannt ist die Technologie vor allem als Rückgrat von Kryptowährungen.

Doch während Bitcoin & Co. zuletzt vor allem Spekulanten anzogen, könnte die Blockchain im produzierenden Gewerbe einen echten Mehrwert schaffen.

„Die Technologie spielt immer dann ihre Stärken aus, wenn Informationen nachvollziehbar und manipulationssicher zwischen mehreren Unternehmen ausgetauscht werden müssen".

Henrik Hahn, Chief Digital Officer (CDO) von Evonik

Siegel gegen Fälscher

Anders als bei Cloud-Lösungen gibt es bei der Blockchain keinen zentralen Datenspeicher – die Informationen liegen stattdessen verteilt auf Tausenden Computern. Jede Änderung muss von der Mehrheit der Rechner im Netzwerk bestätigt werden und wird akribisch protokolliert. Die Blockchain gilt daher als fälschungssicher und resistent gegen Hackerangriffe. Und es können genaue Regeln für Datenbankabfragen programmiert werden: Im digitalen Produktpass von Circularise etwa werden bestimmte Werte nur in aggregierter Form angezeigt – Rückschlüsse auf die Zusammensetzung einzelner Chemikalien sind daher nicht möglich.

Die Erfüllung von Lieferantenauskünften ist indes nur einer von vielen Anwendungsfällen, die in der chemischen Industrie erprobt werden. So kann die Blockchain auch als Instrument gegen Produktfälschungen oder -manipulationen genutzt werden. Das Schweizer Start-up Authena hat dazu elektrische Siegel für Verpackungsbehälter entwickelt, die mit dem Smartphone ausgelesen werden. Auf einer Blockchain sind Daten zu Eigenschaften des Produkts, seiner Echtheit und seiner Unversehrtheit gespeichert. Zum Einsatz kommen die Siegel schon bei edlen Weinen, als Kundenreferenz nennt das Start-up aber auch den Baseler Spezialchemiekonzern Arxada.

Automatisierung mit Smart Contracts

Großes Potenzial sehen Experten für die Blockchain zudem im Finanzwesen: Denn sogenannte Smart Contracts – programmierbare Wenn-dann-Regeln – versprechen Automatisierungspotenzial. Wie das konkret aussehen kann, haben die Commerzbank, BASF und Evonik im Projekt „Themis“ ausgelotet. Die beiden Chemiekonzerne beliefern sich regelmäßig gegenseitig mit Produkten – und jede Warenbewegung sorgt für administrativen Aufwand: Der Verkäufer muss Rechnungen erstellen, den Zahlungseingang kontrollieren und verbuchen. Auf Käuferseite wiederum prüfen Buchhalter die Rechnungen, warten auf die Lieferbestätigung und lösen dann eine Überweisung aus.

Diese Schritte haben BASF und Evonik vor gut zwei Jahren mithilfe von Smart Contracts in einem Pilotprojekt probeweise weitgehend automatisiert. Die einheitliche und sichere Datenbasis in der Blockchain ermöglichte es den Konzernen auch, ihre Forderungen gegenseitig volldigital zu prüfen, zu zahlen und zu verbuchen. „Der Pilotversuch hat gezeigt, dass die Blockchain technisch gesehen bereits praxistauglich ist“, sagt Evonik-CDO Hahn.

Noch einen Schritt weiter denkt das Leverkusener Softwareunternehmen Orbit Logistics, das sich auf Bestandsmanagement-Lösungen für die Chemieindustrie spezialisiert hat. Das Spin-off Azhos will von der Blockchain Brücken in die physische Welt schlagen. „Über Sensoren etwa an Silos lässt sich feststellen, wie viel Ware abgenommen wurde – per Smart Contract würde daraus dann die Rechnung erstellt“, nennt Geschäftsführer Silvio Stephan ein Beispiel. Auch der Wareneingang lasse sich erfassen und könne dann automatisiert eine Zahlung auslösen. Auf lange Sicht könnten auf diese Weise weitgehend autonome Lieferketten entstehen.

Durchschlagenden Erfolg hat Azhos mit dieser Lösung bisher allerdings noch nicht, räumt Stephan ein. Ein wichtiger Baustein für die Zahlungsabwicklungen fehle noch: „Ein großer Bremsklotz ist, dass es noch keinen digitalen Euro auf Blockchain-Basis gibt“ , sagt er. Zahlungen mit Kryptowährungen wie Bitcoin seien nicht salonfähig. Mittels „E-Geld“ können über Umwege zwar auch Euro-Zahlungen in Smart Contracts eingebaut werden. Die Regulierung passe aber an vielen Stellen noch nicht – so seien in der EU Zahlungen von Maschine zu Maschine ohne eine zusätzliche menschliche Interaktion nicht zulässig.

Rütteln am Status quo

Rechtliche Einwände und Bedenken, ob die Anbindung an bestehende IT-Systeme gelingt, hört auch Evonik-Manager Hahn immer wieder, wenn er im Konzern Blockchain-Projekte diskutiert. Dass es manche Ideen aus Pilotversuchen bisher noch nicht in die Praxis geschafft haben, hat seiner Einschätzung nach aber noch einen weiteren Grund: „Mit Smart Contracts würden sich viele Prozesse, die bisher ja funktionieren, drastisch ändern“, sagt Hahn. „Die Herausforderung ist es letztlich, die Menschen von dieser Änderung zu überzeugen.“

Wie groß Beharrungskräfte im Wirtschaftsleben sein können, musste auch TradeLens erfahren. Das 2018 gegründete Gemeinschaftsunternehmen der Reederei Maersk und des IT-Riesen IBM wollte den umständlichen Austausch von Frachtdokumenten in der Containerschifffahrt mithilfe der Blockchain vereinfachen. Aus der Chemiebranche nutzten unter anderem Dow Chemical und DuPont das System. Doch der große Kundenzulauf blieb aus, nun wird TradeLens eingestellt.

Um Blockchain-Anwendungen dauerhaft zu etablieren, braucht es nach Einschätzung Hahns einen langen Atem, branchenweite Initiativen etwa durch Verbände – und nicht zuletzt einen klaren regulatorischen Rahmen.

Ausdrücklich begrüßt er die Versuche von Start-ups, auf die Branche zugeschnittene Lösungen zu etablieren. „Die Chemieindustrie kann der Blockchain-Technologie sicherlich einen großen Schub geben“, sagt Hahn. „Aber wir sind dabei immer auf geeignete Partner und Dienstleister angewiesen.“

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