Big Data revolutioniert die Medizin

Wenn möglichst viele Daten über einen Patienten vorliegen, werden nicht nur klassische Zulassungsstudien einfacher – auch personalisierte Therapien werden möglich. Mitunter haben Pharmaunternehmen die digitalen Chancen aber nur teilweise erkannt.

Von Harald Czycholl

Jeder Mensch ist anders. Das ist eine Binsenweisheit. Es kann aber auch eine revolutionäre Erkenntnis sein – zumindest in der Medizin, wo Patienten mitunter darum kämpfen, von ihrem Hausarzt überhaupt wahrgenommen zu werden: Ein Blick in die Augen wird oft durch Blättern in der Patientenakte ersetzt und auch im Krankenhaus dauert die tägliche Visite durch den Stationsarzt kaum länger als drei bis vier Minuten. Der Rationalisierungsdruck im Gesundheitswesen zwingt zur Eile. Und auch die Pharmabranche ist grundsätzlich auf eine Massenabfertigung getrimmt: Neue Medikamente werden erst zugelassen, nachdem sie große klinische Studien mit Tausenden Patienten durchlaufen haben – man orientiert sich also am Durchschnitt.

Mit der Strategie, massentaugliche Therapien zu entwickeln, hat es die moderne Medizin durchaus weit gebracht.

Doch es gibt auch Schattenseiten: Allzu oft bleiben Therapien bei einzelnen Personen ohne den erwünschten Erfolg, manchmal – etwa in der Onkologie – bringen sie sogar unnötiges Leid mit sich. Denn nicht nur jeder Arzt weiß, dass Krankheiten ganz unterschiedlich verlaufen können, auch wenn in der Krankenakte zweier Menschen die gleiche Diagnose eingetragen ist. Die eine Person spricht auf ein Medikament vielleicht wunderbar an, die andere erleidet schier unerträgliche Nebenwirkungen.

Krebsbehandlung als Vorreiter für personalisierte Medizin

Deshalb gibt es auch den gegenläufigen Trend: die individualisierte Medizin. Vor allem in der Krebsbehandlung gibt es zahlreiche Ansätze, Patienten nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip zu behandeln, sondern sich ihre Krankheiten sehr viel genauer anzuschauen, als es noch bis vor einigen Jahren üblich war. Am Ende erhalten sie Medikamente, die auf ihre persönliche Ausprägung der Krankheit zugeschnitten sind.

Was zunächst einmal empathisch und persönlich klingt, kommt allerdings in der Realität technisch kühl daher.

Denn ohne passende Daten gibt es auch keine zielgerichtete Behandlung, sodass zunächst einmal genetische Untersuchungen anstehen: Vorliegende Mutationen werden analysiert, individuelle Stoffwechseleigenschaften der Patienten im Labor detektiert – und je nach Ergebnis greifen Mediziner dann zu einem anderen Medikament. Deshalb wird die personalisierte Medizin auch als Präzisionsmedizin bezeichnet.

Das wiederum stellt auch die Pharmabranche vor Herausforderungen. Denn es reicht nicht mehr, Medikamente zu entwickeln und Zulassungsstudien durchlaufen zu lassen und sie dann – nach erfolgter Zulassung durch die zuständigen Stellen – in Massenproduktion abzufüllen und an den Pharma-Großhandel zu verschicken.

Fortschritte in der Genomik und die Weiterentwicklung verwandter Präzisionstherapien, die die genomische Veränderung einer bestimmten Krankheit genau bestimmen, verändern den Behandlungsansatz von Ärzten.

Emmanuelle di Tomaso, Leiterin der Präzisionsmedizin im Bereich Onkologie bei Bayer

Je mehr Daten, desto umfassender die Ergebnisse

Big Data macht solche innovativen Ansätze wie die personalisierte Medizin also erst möglich. Doch auch für bewährte Medikamente bieten auf Big Data basierende Ansätze neue Möglichkeiten. Mit modernen Analyseverfahren können Unmengen unternehmensinterner und öffentlicher Datenquellen in Sekundenschnelle ausgewertet werden, die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Pharmaunternehmen erhalten dadurch umfassende Einblicke in Therapieerfolge und -misserfolge der jeweiligen Medikamente. Denn mithilfe digitaler Technologien können die Forschenden auch sehr umfassende Datensätze innerhalb kürzester Zeit auswerten. In einigen Fällen erlauben diese Daten auch eine vorausschauende Analyse, die langwierige Tests unnötig macht.

Beim Pharmakonzern Sanofi laufen entsprechende Projekte, beispielsweise im Bereich Arzneimittelstudien, die diese neuen Methoden nutzen und weiterentwickeln sollen. So mussten beispielsweise bisher Studienteilnehmer zum Erfassen von Daten oder zur Blutabnahme in Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen erscheinen und oft lange Anreisen in Kauf nehmen. Neuartige Modelle, wie die in den USA begonnene Kooperation von Sanofi mit dem kalifornischen Technologieunternehmen Science 37 , könnten das erleichtern.

Mittels der Plattform Science 37 können Studienteilnehmer ihre medizinischen Daten über ein mit Sensoren vernetztes Smartphone direkt an die Wissenschaftler übermitteln, ohne dafür in die Klinik oder die Forschungseinrichtung fahren zu müssen. So kann die Blutabnahme etwa in Zusammenarbeit mit Ärzten in der Nähe des Wohnorts der Studienteilnehmer erfolgen. Dies ermöglicht den Teilnehmern einen weitgehend normalen Alltag und vereinfacht ihre Beteiligung an der Studie.

Darüber hinaus kann Sanofi mit digitalen Studien schneller analysieren, wie ein Medikament unter realen Bedingungen wirkt. Das kann letztlich dazu führen, dass Nebenwirkungen schneller erkannt werden, ein Wirkstoff schneller zur Zulassung gelangt und Patienten eher mit neuen Wirkstoffen versorgt werden können.

Digitalisierung verändert die Branche maßgeblich

Fest steht jedenfalls, dass Daten und die Digitalisierung insgesamt die Pharmabranche einschneidend verändern. Der Zugang zu und die Verarbeitung von Daten werde zunehmend zum kritischen Erfolgsfaktor, heißt es in einer im Jahr 2022 veröffentlichten Studie des Beratungsunternehmens Santiago Advisors . Aus der Studie lassen sich fünf Kernkompetenzen für künftigen Erfolg herauslesen: Gute Aussichten hat demnach, wer schnell auf Veränderungen der Wettbewerbssituation reagiert, mutig auf die richtigen Trends setzt, durch erfolgreiche Partnerschaften seine Marktchancen ausweitet, früh auf qualifiziertes Personal setzen kann und verfügbare Daten nutzt, um effizienter und besser zu werden.

Diese Trends treiben den Wandel in der Pharmaindustrie - Sind wir in Deutschland bereits für die Disruption?
Quelle: Santiago Advisors, Pharma-Studie 2022 "Die Pharmabranche revolutionieren – Wie man die Herausforderung des Wandels meistert"

Der Studie zufolge haben jedoch bislang nur wenige Unternehmen tatsächlich Maßnahmen umgesetzt, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit in diesem Umfeld sicherzustellen. Neue Technologien und Kundenanforderungen träfen oftmals auf behäbige Unternehmens- und Entscheidungsstrukturen, die in einer modernen Welt schnell zum Nachteil werden könnten, sagt Jan Smagin, verantwortlicher Partner für die Studie bei Santiago Advisors.

Die Pharmaindustrie muss sich auf die Herausforderungen der digitalen Zukunft vorbereiten. Wir möchten die Branche dazu ermutigen, die Chancen und Risiken der Digitalisierung ernst zu nehmen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Kontakt